Die technische Seite von Home-Office ist schnell eingerichtet. Viele Menschen sind neugierig darauf, die verschiedenen Tools kennenzulernen, zu benutzen und zu meistern. Fragen von Teamorganisation, Teamdynamik und Führung bleiben jedoch bestehen.
In einem anderen Artikel habe ich über die Bedeutung der Wahrnehmung von Nähe für die Effektivität in räumlich verteilten Teams geschrieben und wie regelmäßige Kommunikation und Identifikation dazu beitragen, eine Wahrnehmung von Nähe zu erreichen. In vielen Gruppen macht sich die Erkenntnis breit, dass Home-Office nur eine weitere Ebene der räumlichen Verteilung ist; damit können vorhandene Ressourcen für das Gelingen im Team freigesetzt werden.
Team-Check-ins, bei welchen Teams nicht nur ihre Aufgaben koordinieren, sondern auch nach ihrem Wohlergehen fragen, scheinen sich derzeit durchzusetzen. Mit der Zeit jedoch könnte die Versuchung entstehen, diesen Teil des Check-ins fallen zu lassen und sich ausschließlich auf die Aufgabenseite zu konzentrieren. Ein Anzeichen dafür ist bspw. die Aussage, „der Check-in wiederholt sich“. Das Gefühl von Redundanz kann vermieden werden, indem man es unterschiedliche Methoden ausprobiert: Abwechslung in der Moderation, non-verbale oder visuelle Durchführung, die Beschreibung der Lage mit nur einem Wort, die Heranziehung technischer Lösungen. Die Möglichkeiten sind unendlich.
Ein internationales Team hat sich die Zeit genommen, über seine ersten Erfahrungen mit Remote-Working zu reflektieren und hat erste Schlussfolgerungen gezogen. Sie haben herausgefunden, dass Offenheit und Neugier auf die Veränderung, regelmäßige Interaktion, Transparenz über eigene Grenzen („Ich bin jetzt (nicht) verfügbar“) und die Akzeptanz dieser Grenzen („OK, wir reden später!“) Schlüsselelemente sind. Sie entdecken, was für sie (einzeln und als Team) funktioniert, und haben auch darüber nachgedacht, wie wichtig es ist, „einen Gang runterzuschalten“. Sie haben ihre Überlegungen hier geteilt: https://www.eunicglobal.eu/news/work-during-stayathome
Einen Gang runterzuschalten ist eine kluge Schlussfolgerung, aber es ist etwas, das Reflexion und Unterstützung erfordert. Die Fähigkeit, die aktuelle Situation und das Aufbrechen von Mustern und Annahmen als Lernprozess zu beobachten, kann dabei helfen, mit der Unsicherheit und Unklarheit der Situation umzugehen. Drei Beispiele aus der letzten Woche veranschaulichen den Nutzen des „Runterschaltens.“
- Angesichts der Unsicherheit fliehen viele Menschen in Arbeit, auch weil sie das Gefühl haben, dass es besser ist, etwas zu tun, in der Hoffnung das Gefühl der Kontrolle zu behalten. Dieses Verhalten ist kontraproduktiv.
- Nach dem anfänglichen Home-Office-Honeymoon sind die sozialen Medien jetzt voller Fotos von verschiedenen, zuvor getrennten Lebensbereichen, die nun aufeinander prallen: Home-Office mit Kindern im Hintergrund, oder Partner, die zufällig in der Nähe des Bildschirms sind, neue Rituale wir „Formal Friday“ usw. So humorvoll diese Beiträge auch sind, sie zeigen eine wachsende Frustration. Bei einem Termin war meine Gesprächspartnerin 15 Minuten zu spät und entschuldigte sich ausgiebig für ihr „unprofessionelles“ Verhalten; die Kinder hatten sich gestritten und sie musste eingreifen. Es war ihr sichtlich peinlich.
- Während viele von uns gerne im Home-Office arbeiten, blühen einige Klienten regelrecht auf. Nachdenklich stellen sie fest, dass sie die Inputs beim Pendeln, im Büro, bei Freizeitaktivitäten usw. nicht vermissen. Verschiedene Schichten des Lebens fallen weg, und einige Menschen finden Gefallen daran. Dies hat jedoch auch zu Schuldgefühlen geführt: „Die Welt gerät aus den Fugen, aber ich genieße die Ruhe. Das geht doch nicht!“ meinte ein Coachee zu mir.
Einen Gang runterschalten erfordert Mitgefühl und Selbstmitgefühl. Teams können sich fragen, ob das, was sie tun, wirklich notwendig ist, besonders wenn sie sich dabei ertappen, wenig Wert zu schaffen. Es ist dann besser aufzuhören, nur das Notwendigste tun und sich Zeit nehmen, um sich gegenseitig oder andere zu unterstützen. (Siehe https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-03-24/panic-working-at-home-through-coronavirus-will-lead-to-burnout).
Effektive Teams, die sich einander nahe fühlen, kommunizieren häufig miteinander. „Häufig“ heißt jedoch nicht „stundenlange Videokonferenzen“. Check-ins sind wichtig, aber müssen alle Projektdetails in den Videocalls besprochen werden . Da die Grenzen (oder Verbindungen?) zwischen verschiedenen Lebensbereichen derzeit neu ausgehandelt werden, können asynchrone Arbeitspraktiken von Vorteil sein. Die Verwendung von Collaboration-Tools zur gemeinsamen Textarbeit kann effektiver sein als noch eine Videokonferenz. (Siehe deutsch: https://fuehrung-erfahren.de/2020/03/videokonferenzen-sind-auch-keine-loesung/) Eine Voraussetzung dafür ist eine ehrliche Kommunikation und Transparenz über Arbeitszeiten und Verfügbarkeiten, damit es verlässlich bleibt. Solche Praktiken ermöglichen eine Individualisierung der Arbeitspraktiken, die – wenn sie gut aufeinander abgestimmt sind – der Effektivität und Zufriedenheit förderlich sein können, ganz ohne Schuldgefühle und Vorwürfe.
Diese Beispiele zeigen, dass alte Muster und Annahmen unter Druck geraten und weniger Orientierung bieten als sonst. Die Dinge verschieben sich. Ob diese Verschiebung zu einer dauerhaften Veränderung führt und wie die Welt nach Corona aussehen wird, ist keine Frage für heute. Die Frage für heute ist, wie Teams durch die unbequeme Gegenwart kommen. Einen Gang runterzuschalten kann helfen.
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