Wenn Rollenerwartungen und Rollenwahrnehmung auseinanderklaffen

In Organisationen besteht oft eine Lücke zwischen Erwartungen an Rollen und wie Rollen tatsächlich wahrgenommen werden. Die Lücke wird häufig in Veränderungsprozessen sichtbar. Ziel sollte sein zu reflektieren, was die Organisation von der Rolle braucht, wie der Mitarbeiter die Rolle sieht, welche Unterschiede bestehen und dann Wege aufzuzeigen, wie die vorhandene Lücke überbrückt werden kann.

Ovey* Organisation and Leadership Development hat einen Workshop für eine internationale Organisation moderiert, in welcher die Aufgaben zwischen der Zentrale und den örtlichen Vertretungen neu verteilt worden waren. In diesem Zuge sollte die Leiter vor Ort neue Aufgaben übernehmen. Es gab unterschiedliche Reaktionen zur neuen Situation. Für die Zentrale, die aus ihrer Sicht zu wenig Personal hat, war die neue Lage klar: die neue Rolle wurde schriftlich beschrieben und die einzelnen Aufgaben, einige davon neu, waren alle umfangreich im Intranet der Organisation dargelegt. Die Leiter vor Ort waren hingegen anderer Meinung. Auch sie haben die Ansicht vertreten, sie hätten zu wenig Personal, und meinten darüber hinaus, sie hätten keine ausreichende Einführung in die neuen Aufgaben erhalten. Sie fanden den Hinweis der Zentrale auf das Intranet unbefriedigend; einige Leiter fühlten sich alleine gelassen und sogar überfordert. Im Vorgespräch hieß es, es hätte einen Zusammenbruch in der Kommunikation gegeben. Am Workshop sollten Vertreter der Zentrale und die örtlichen Leiter teilnehmen.

Im Workshop wurden die Teilnehmer gebeten ein Bild von der aktuellen Lage zu zeichnen. Weil ein Bild mehr sagt als tausend Worte ist dies eine starke analoge Methode, um Gedanken und Gefühle jenseits der wörtlichen Sprache zu erfassen. Die Bilder waren die Grundlage für eine Diskussion unter den Teilnehmern, aus welcher vier Oberthemen entstanden: Rolle, Kompetenzen, externe Anforderungen und Arbeitslast.

Um einen Perspektivenwechsel bei den Teilnehmern zu unterstützen, sprachen die beiden Gruppen untereinander über Ziele und Entwicklungen der jeweils anderen Gruppe und welche Folgen diese für sich selber hätten. Danach konnte eine vertiefte Diskussion zu wesentlichen Faktoren bei den vier Oberthemen erfolgen, und daraus Wege für die Zukunft erörtert werden.

Die unterschiedlichen Rollenwahrnehmungen (Welche Rolle erwartet die Zentrale? Welche Rolle üben die örtlichen Leiter tatsächlich aus?) war das Kernthema im Workshop. In vielen Organisationen scheitert eine neue Aufgabenteilung, vornehmlich wegen unzureichendem Training. In dieser Organisation hatte es zwar Fortbildungen für die neuen Aufgaben gegeben, aber – so einige Workshopteilnehmer – die örtlichen Leiter wären nicht bei der Sache gewesen. Dies hängt mit Identität zusammen. Eine der neuen Aufgaben bestand darin, Verwaltungsaufgaben zu koordinieren, was bisher mit Personen in einer niedrigeren Tarifstufe verbunden war; die neuen Aufgaben wurden als „unter ihrer Würde“  empfunden. Die neuen Aufgaben führten auch dazu, dass weniger Zeit für die ursprünglichen Aufgaben aufgewendet werden konnte. Der Verlust der Wichtigkeit der „eigentlichen“ Aufgabe wurde nachgetrauert, obwohl sich das „Eigentliche“ in den Augen der Zentrale verschoben hatte. Die Identifikation mit der Rolle ist entscheidend, und das hat oft mit der Identität der Mitarbeiter zu tun. In diesem Fall signalisierten die neuen Aufgaben eine Verstärkung von Managementaufgaben in der Organisation, etwas, was in der Vergangenheit von der Fachaufgabe getrennt war.

Es ist legitim und wichtig für Organisationen, Profile anzupassen und Aufgaben neu zu verteilen, um den aktuellen Anforderungen an die Organisation besser gerecht zu werden. In diesem Fall erfolgte die Neuverteilung vor dem Hintergrund von Compliance-Anforderungen. Die Vorgehensweise der Zentrale war top-down. Es gab wenig Input von der Fläche. Für eine erfolgreiche Neuverteilung von Aufgaben ist jedoch eine Diskussion darüber notwendig, warum die Veränderung notwendig ist, was sie für alle Beteiligten bedeutet und was zum Erfolg der Veränderung betragen kann. Wenn sich die Rollenwahrnehmung verschieben muss, ist es wichtig, sich Zeit dafür zu nehmen und unter anderem darüber zu sprechen, wie sich andere Rollen in der gesamten Organisation ebenfalls verschieben.